FRAGEN AN DIE REGISSEURIN
Wie kamst Du zu der Idee einen Film über diese Familie zu machen ?
Meine ursprüngliche Idee war, einen Episodenfilm zu machen, über verschiedene Jugendliche und deren Leben in Heimen. Ich recherchierte über ein Jahr in ganz Deutschland in verschiedenen Heimen. Ich führte lange Interviews und wir machten Probeaufnahmen und Fotos, es entstand sehr viel Material. Ich begann mich mit den Eltern der Jugendlichen zu treffen, weil mir mehr und mehr bewusst wurde, dass die Gründe für die Lebenswege der gestrandeten jungen Menschen meist in der Kindheit zu finden sind. Und ich wollte mehr von den Eltern wissen, ihre Sicht auf ihre Kinder erfahren, die sie in Heime gegeben haben. Sehr schnell kamen wir in diesen Gesprächen dann auch auf die Kindheit der Eltern zu sprechen.
Biggi erzählte mir in der Recherchephase von dem Moment, in dem ihre Adoptivmutter ihr einen neuen Namen aufgezwungen hat. Sie sprach immer wieder davon.
In unserer heutigen Zeit geht, wo es oft um grelle Oberflächen, ständige Selbstoptimierung und Perfektion geht, fand ich das neben vielen anderen Elementen einen wichtigen Aspekt, der mich sehr beschäftigt hat.
Was kann so eine traumatische Erfahrung mit einem ganzen Menschenleben anstellen. Welche Umstände und Erinnerungen prägen den Menschen und bestimmen seine Entscheidungen.
Obwohl sie schwere Erfahrungen durchgestanden haben, kämpfen sie um ein würdevolles Leben.
Ich wollte mich deren Wirklichkeit annähern, und diese erfahrbar machen. Die Unausweichlichkeit die entstehen kann, in die man hineingeboren wird oder in die man hineingerät, und die Ausbruchsversuche daraus oder Akzeptanz.
Mich hat beeindruckt, dass sie so stark sind. Sicher gab es auch widersprüchliche, schwierige Empfindungen, und wir haben Abends oft noch lange zusammengesessen um das Erlebte zu besprechen und zu verarbeiten. Mal nur das Team für sich, mal gemeinsam mit der Familie.
Warum hast du diese Form gewählt? Warum stehen die Einstellungen teilweise sehr lange?
Ich denke, dass Gefahr besteht, dass wir es verlernen, geduldig und genau hinzuschauen, jemand zusehen bei dem was er tut und wie er etwas tut: Vorurteilsfrei, also ohne jemanden zu verurteilen, sich jemandem behutsam anzunähern. Das scheint mir in Zeiten von digitalen Medien, Facebook etc. besonders wichtig.
Darüber hinaus möchte ich den Zuschauern in den Totalen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, welchen Teil eines Bildes sie zuerst fokussieren.
Das Zusammenspiel von Nähe und Distanz ist ein wichtiger Aspekt auch in der Bildsprache:
Die Protagonisten befinden sich in einer fortlaufenden Annäherung und Distanzierung.
Wir bewegen uns mit den Protagonisten in einer Peripherie der Gesellschaft. Die Tableaus ermöglichen einen Blick abseits vom Zentrum des Films.
Beispielsweise in der Streitszene am Anfang des Filmes: Schau ich auf die Hunde, beobachte ich Alfred, oder Biggi und ihre Tochter, oder wandert mein Blick über diesen Innenhof und seine Gebäude. Der Ort ist für mich immer auch so etwas wie ein Protagonist des Filmes.
Durch die Kadrierung entsteht manchmal bisweilen eine Art von Hyperrealität.
Was wir während der Drehtage gemacht haben, war ganz lange abzuwarten und zu beobachten, was passiert. Matteo Cocco hat die Bildsprache sehr geprägt, wir haben mit einer sehr kleinen Kamera gedreht, die nicht viel Platz braucht. Eine Kamera die nicht zum Mittelpunkt des Geschehens wird.
Mir war es wichtig meinen Protagonisten einen Raum gegeben, in dem sie sich selbstbestimmt zeigen können, wahrhaftig, ohne ihre Würde zu verlieren.
Stunden und Tage haben wir gewartet, bis sich Handlung abzeichnet, eine Veränderung statt findet‚. In vielen Einstellungen „passiert“ kaum etwas - damit konfrontiere ich den Zuschauer.
Mit Warten und Erwartung. Entgegen konventioneller Dramaturgie gibt es keine sich steigernde Handlung mit einer großen Veränderung, wir sind Zeugen eines auf den ersten Blick stagnierenden Zustandes.
Bewegung findet dennoch statt, hervorgerufen durch die Erinnerungen und Erzählungen der Protagonisten. Eine innere Bewegung.
Die einzige reale, äußere Bewegung die eine Veränderung mit sich bringt, ist der Auszug von Biggi und den Mädchen, die Autofahrt zu ihrem neuen Wohnort.
Wie geht es den Protagonisten jetzt, ein Jahr nach Fertigstellung des Filmes?
Biggi geht es gut, sie geht arbeiten und kümmert sich um ihre Hunde. Die Pferde hat sie weggeben, da es an Geld gefehlt hat. Denise hat eine Tochter bekommen und zieht diese mit ihrem neuen Freund in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt auf. Der echte Vater möchte sich nicht zur Vaterschaft bekennen.
Saskia ist schwanger und wird das Kind erst mal alleine groß ziehen, da die Beziehung zu dem Vater des Kindes in die Brüche gegangen ist. Sie teilt sich mit Biggi das Haus und ihre Mutter wird ihr helfen das Kind großzuziehen. Alfred lebt glücklich verliebt im Nachbardorf mit seiner Freundin zusammen.
QUESTIONS TO THE
DIRECTOR
How did you come up with the idea of making a film about this family?
My original idea was to make an episodic film about several adolescents and their lives in foster homes. I researched for over a year at a number of different homes all over Germany. I conducted long interviews, and we shot some test footage and photos, creating a lot of material in the process. Then I began meeting the parents of these adolescents, because I became increasingly aware of the fact that the reasons for the youths’ lives going awry could most often be traced back to their childhood.
And I wanted to learn more about the parents, hear their view on their children whom they had sent to foster homes. Very quickly, these conversations would also turn to the subject of the parents’ own childhood.
During the research phase, Biggi recalled the moment when her adoptive mother forced a new name upon her. She talked about it on many occasions. In our day and age, where a dazzling surface and constant self-optimization and perfection are often the only focus, I found this to be an important aspect among many other elements.
What can such a traumatizing experience do to the entire course of a human life? What circumstances and memories shape a person and determine the decisions they make?
Even though they have lived through hardship, they are fighting for a dignified life.
I wanted to approach their reality in such a way that their experiences could be shared. The inescapability of what one is born into or drawn into, and the efforts to break out of it or to accept it.
I was impressed by how strong they are. Of course, there were contradictions and conflicting feelings, and we often spent long evenings together to talk about and process the day’s experiences. Sometimes it was just the team on its own, and sometimes with the family.
Why did you choose this form?
I think that we are in danger of forgetting how to watch patiently and attentively, to observe closely what someone is doing and how they are doing it – impartially, without judging, just approaching the person very cautiously. In an age of digital media, Facebook, etc., this seems particularly important to me.
In addtion to that, I wanted the long shots to give viewers the opportunity to decide for themselves which part of the picture to focus on first.
The interplay of closeness and distance is an essential aspect of the visual language as well: The protagonists find themselves in a continuous process of closeness and distance.
We are moving with the protagonists on a periphery of society. The tableaus give us a wider view, allowing us to look beyond the center of the picture.
For example, the argument scene at the beginning of the film: Do I look at the dogs, do I watch Alfred, or Biggi and her daughter, or do my eyes wander across this courtyard and its buildings? To me, the locality always is a kind of protagonist as well. The framing sometimes create a sort of hyperreality.
What we did during the filming was to wait for very long periods of time and observe what was going to happen. Matteo Cocco strongly shaped the visual language, we shot on a very small camera with a small footprint; a camera which did not become the center of attention.
It was important to me to give the protagonists a space in which they could present themselves in a self-determined way, truthfully, without losing their dignity. Hours and days were spent waiting for the action to emerge, for a change to occur. In many shots, hardly anything “happens” – and I confront the viewer with this. With waiting and expectation. Contrary to dramaturgical conventions, there is no build-up of the action, no big change; we are witnesses to a state which at first sight appears to be stagnant.
Yet there is movement, generated by the memories and accounts of the protagonists. An inner movement.
The only real, outward movement that brings about a change is when Biggi and the girls move out and drive to their new home.
How are the protagonists now, one year after the making of the film?
Biggi is doing fine, she goes to work and cares for her dogs. She gave away the horses, as there was not enough money to keep them. Denise had a daughter, and she is raising her child together with her new boyfriend in a small town in Saxony-Anhalt. The biological father does not want to acknowledge his paternity.
Saskia is pregnant and will be a single mother for the time being, since the relationship with the child’s father did not last. She shares the house with Biggi, and her mother will help her raise the child. Alfred is happily in love with his new girlfriend and lives in the neighboring village.